Der Sixtinische Himmel by Leon Morell
Autor:Leon Morell [Morell, Leon]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783502102243
Herausgeber: Scherz Verlag GmbH
veröffentlicht: 2012-05-01T22:00:00+00:00
XXXIII
Ohne zu ahnen, was er damit vorhatte, steckte Aurelio am Morgen sein Messer ein. Er brannte vor Verlangen, sie zu sehen. Aphrodite. Die Frau hinter dem Mythos, das Gesicht hinter dem Schleier, die Sünde hinter der Keuschheit. Im Stillen ihren Namen auszusprechen, versetzte ihn bereits in einen Rausch. Ihre verhüllte Gestalt wich keinen Augenblick mehr von seiner Seite.
Michelangelo bemühte sich, während der Arbeit am Fresko nichts von seiner Erregung nach außen dringen zu lassen. Aurelio jedoch spürte seine wachsende Ungeduld in kleinen Gesten auf: Wenn sein Meister mit den bloßen Fingern eine Borste vom Intonaco entfernte, die sich aus dem Pinsel gelöst hatte, oder wenn er warten musste, bis eine neue Farbe angerührt war. Die heutige Giornata – Gesicht und Schulterpartie eines Ignudo, der dem Betrachter sein Profil zugewandt hatte und vor sich zu Boden blickte – verlangte Michelangelo weder körperliche noch geistige Anstrengungen ab. Geradezu beiläufig formte er die Schulter, die den Betrachter glauben machte, sie wölbe sich aus dem Putz. Nachdem er den letzten Pinselstrich angebracht hatte, war dem Ignudo, ob beabsichtigt oder nicht, ein sonderbarer Gesichtsausdruck eigen, hinter dem sich ein Geheimnis zu verbergen schien.
Aurelio folgte seinem Meister, kaum dass dieser im Seiteneingang der Kapelle verschwunden war. Unten, in der modrigen Feuchtigkeit der Katakombe, zwischen den in den Stein gehauenen Mauern und den Gebeinen längst vergangener Jahrhunderte, rang die Laterne, die er diesmal bei sich führte, nach Luft.
Als Aurelio mit Michelangelo über die Baustelle von Sankt Peter gegangen war, hatte dieser ihm erklärt, dass, nachdem man Petrus beigesetzt hatte, auf dem Abhang des vatikanischen Hügels im Laufe der Jahrhunderte eine Nekropole, eine Totenstadt, entstanden war. Als Kaiser Konstantin dann die erste Basilika über dem Grab des Apostelfürsten errichten ließ, wurden Teile dieser Nekropole abgerissen, andere, unterirdische, über denen die Kirche erbaut werden sollte, zugeschüttet und aufgefüllt. Offenbar war diese Katakombe dabei in Vergessenheit geraten, womöglich sogar bewusst ausgespart worden. Es gab keinen Grund, weshalb Konstantin mehr hätte zuschütten lassen sollen, als für den Bau der Basilika erforderlich gewesen war. Vermutlich war dieser Ort erst beim Bau der Sixtinischen Kapelle wiederentdeckt worden. Möglich sogar, dass bis heute nicht mehr als eine Handvoll Menschen von seiner Existenz wussten.
Aurelio stieg den schmalen Schacht zum Papstpalast empor, passierte die erste Tür, stellte vor der zweiten die Laterne ab und schlich sich gerade rechtzeitig genug hinter den Wandteppich, um seinen Meister sagen zu hören: »Mit Schleier werde ich Euch kaum zeichnen können, verehrte Aphrodite.«
Nur zu hören, wie Michelangelo ihren Namen aussprach, bewirkte bei Aurelio, dass jede einzelne seiner Haarwurzeln zu jucken begann. Am liebsten hätte er den Teppich von der Wand gerissen und gerufen: Seht her, hier bin ich! Das Schweigen schnürte ihm die Luft ab.
Endlich hörte er ihre dunkle Stimme: »Was ist?«
Michelangelo, der offenbar mit dem Rücken zu Aurelio saß, antwortete: »Ich hatte daran gedacht, zunächst Euer Gesicht zu zeichnen.«
»Und ich dachte, Ihr würdet das Gesicht nur verstehen, wenn Ihr auch den Rest kennt.«
Aurelio bemerkte erst, dass er das Messer hervorgeholt hatte, als seine Hand es aus dem ledernen Futteral zog. Vom Kamin her ertönte das schläfrige Knurren des Jaguars.
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